Ein Ort ist stabil, hat ein charakteristisches Profil und ist Teil einer Ordnung. Ein Raum hingegen ist dynamisch, veränderbar und durch die ihn durchquerenden Subjekte definiert. Durch Handlungen, Erzählungen oder Bewegungen kann sich ein Ort in einen Raum verwandeln, durch systematische Festschreibungen ein Raum zum Ort werden.
Tolia Astali und Dylan Peirce haben eine Ausstellung für MAP entwickelt, welche die Spezifik des Ortes aufgreift und ihn räumlich erschließt. Die Wohnhäuser auf dem Dach der Bilker Arkaden wurden allein deshalb erbaut, weil der Bebauungsplan des Areals die Schaffung von Wohneinheiten vorsah. Jetzt stehen drei solitäre Häuser auf einer Fläche, die mit Bäumen und Rasenflächen eine Idee von Landschaft aufkommen lassen will, tatsächlich aber ihre Entstehung auf dem Reißbrett des Architekten nicht verleugnen kann.
„Interiors“ nimmt auf abstrakter Ebene den Gedanken des Wohnens an diesem Ort auf, bleibt aber Andeutung eines Potenzials statt Manifestation eines Zustandes. In einer Choreographie verschiedener Annäherungen an die räumlichen Gegebenheiten entfalten Astali und Peirce ein auf Artefakten basierendes Szenario, das den gegebenen Kontext aufgreift, kommentiert und verändert. Zwischen gegebenem Material und spekulativem Entwurf entsteht dabei eine neue Vorstellung von Raum und Zeit, die Architektur als Container von sedimenthaft sich überlagernden Ideenbildern begreift.
Die Eingriffe in die Ausstellungsräume sind scheinbar minimal. Sie rekurrieren auf ein Vokabular der Kunst der Moderne, das Fragen an Form und Material gegenüber figurativen Aspekten privilegiert, dabei jedoch durchaus raum- und kontextbezogen arbeitet. So greift eine Holzkonstruktion die Fensterstruktur der gläsernen Frontseite auf und verdoppelt über Plexiglasscheiben das Prinzip transparenter Raumgrenzen in den Innenraum, das Interieur hinein. Betonflächen, wie Bilder präsentiert, stellen eine prototypisch modernistische Materialität zur Schau. Doch es ist kein massiver Beton, sondern nur eine dünne, bereits von feinen Rissen durchzogene Schicht, die mit einer weißen Platte amalgamiert ist und das Prinzip von Oberfläche und punktueller Deformation sowie prozesshaften Einschreibungen in eine nie statisch verstandene Materialität zum Tragen kommen lässt.
Im zweiten Haus findet sich die Reproduktion einer Oberfläche aus Holz, eine überzeugende Wiedergabe von Maserung und Textur. Ein abstraktes Waschbecken aus einem fossilen Baumstamm, auf einer den Raum abgrenzenden Holzkonstruktion platziert, ergänzt den Eindruck eines modellhaften Interieurs. Das Kupferrohr auf dem Boden jedoch ist eine Ansammlung durchbohrter Ein-Cent-Münzen. Es spielt mit der strengen Raumpräsenz minimalistischer Werke, ihrer scheinbaren Selbstgenügsamkeit, konterkariert diese jedoch durch seinen materiellen Bezug zum Kontext ökonomischer Transaktionen. Auch die auf ihre Warenförmigkeit hin ausgerichtete Aneignung von Natur inszeniert eine eigentümliche Spannung zwischen Form und Funktion, die ästhetische und ökonomische Codierungen im Sinne wechselseitiger Aufladung reflektiert.
Im dritten Haus schließlich findet sich ein rundes Betonelement, das an die Säule erinnert, die vor der Fensterscheibe steht, aber auch an aus dem Wasser ragende Teile eines Wellenbrechers. Es ist letztlich eine abstrakte Form, ein Relikt ohne ablesbare Funktion, das gerade deshalb jedoch die Möglichkeit einer mnemotechnisch in den Formen sich ablagernden Historie transportiert. Verschiedene Collagen, auf weißen Paneelen präsentiert, die wie ein Archivsystem an der Wand angebracht sind, machen diese Vorstellung einer der materiellen Welt impliziten Veränderung und progressiven Deformation evident. Es sind keine auf dem Prinzip konstruktiver Brüche basierenden Arrangements, sondern collagierte Bildebenen, scheinbar organisch ineinander gemorpht, die sich überlagern und an anderer Stelle dissonant wieder zusammenwachsen. Die visuelle Implosion fragmentiert und blendet konkrete Sichtbarkeiten aus, fügt an anderer Stelle jedoch ergänzende Raum- und Bildschichten wieder ein. Homogenisiert in schwarz / weiß, eröffnen die Collagen abstrakte Räume und Architekturen, deren Tiefe nur mehr eine perspektivische ist. Sie verweisen auf modernistisch geprägte Vorstellungen von Raum und Zeit, deren universeller Anspruch inzwischen revidiert worden ist. Die Künstler interessieren dabei weniger die Gründe für die verschiedenen Erscheinungsformen des Modernismus und ihre Transformationen bis in die Gegenwart hinein denn die Frage, warum gerade diese Formen und Materialien zu Trägern historischer wie sozialer Einschreibungen werden konnten und ob sie sich als Depot kollektiver Historizität jenseits des Nostalgischen überhaupt reaktivieren lassen.
Letztlich erkunden Tolia Astali und Dylan Peirce unsere Gegenwart mit dem Blick eines Archäologen, der in den Ist-Zuständen der Dingwelt die Spuren abgelagerter Geschichte findet. Die Manifestation von Zeit im Material, weniger in der Form, strukturiert dabei ihr künstlerisches Handeln, das Zeit nicht als von punktuellen Ereignissen geprägte und damit historische, sondern eher als geologische Zeit betrachtet. Veränderung bedeutet aus dieser Perspektive heraus nicht Ablösung und Auslöschung, sondern Verschiebung und Überlagerung. Dann geht es nicht um das singuläre Ereignis, sondern um die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, um Transformationen, langsamen Verfall und erodierende Utopien.
Zu den auch sozial von der Umgebung differenzierten Bauten des MAP verhalten sich die Arbeiten von Astali / Peirce wie Relikte, die etwas aktivieren, was dem Raum implizit ist, von diesem aber nicht artikuliert werden kann. Er selbst wird dadurch zum Resonanzraum, der die in ihm eingelagerten Dinge zum Sprechen bringt. Denn eigentlich sind die minimalistischen „Interiors“ von Astali / Peirce zeitgenössische Allegorien und damit wandlungsfähige Konstrukte, die auf Mehrdeutigkeit zielen. Sie bilden einen Verweisungszusammenhang, der sowohl das Einzelne wie das Totale bedeutet. Für Walter Benjamin liegt der prägnanteste Ausdruck der Allegorie im Bodensatz des Jüngstvergangenen. Es bietet das Bild einer erstarrten Unruhe und ist geprägt vom Spannungsverhältnis aus Konstruktion und Zerstörung, Fiktion und Wirklichkeit und der Doppeldeutigkeit allen Seins. Jenseits des Organischen und Lebendigen, in der still gestellten Form, verdichten sich in ihm die Zeugnisse einer Vergangenheit, deren Bedeutung für das Jetzt erst der arretierten Form objekthafter Gegenständlichkeit eigentlich überhaupt sichtbar werden kann.
Vanessa Joan Müller